Im 15. und 16. Jahrhundert, der Zeit berühmter alter Meister, insbesonder des Spaniers Lucena und des Italieners Greco blühte die romantische Schule des Schachspiels auf. Ihr Stil ist durch Taktik, tiefe Kombinationen und scharfe Königsangriffe -geprägt. In der Mitte des 18. Jahrhunderts hat der Franzose François Philidor die Bedeutung der Bauern erkannt, sein 1749 erschienenes Buch „Analyse du jeu des Échecs” galt jahrhundertelang als theoretisches Grundsatzwerk. Gute 100 Jahre später haben der Amerikaner Paul Morphy, der Östereicher Wilhelm Steinitz, der erste offiziele Weltmeister, und der deutsche Siegbert Tarrasch die Grundsteine der positionellen Schule gelegt, deren Stil als klassisch bezeichnet wird. Sein Wesen kann man so folgendermaßen umreißen: Vom Beginn der Partie an sollte man versuchen, durch einen geeigneten Plan ein Übergewicht zu erzielen, und nach Anhäufung kleiner Vorteile kann möglicherweise durch einen taktischen Schlag ein erfolgreicher Angriff durchgeführt werden. Die taktische Elemente des Spiels werden also dem strategischen Vorhaben untergeordnet.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunders hat sich herausgestellt, dass der Kampf oft zu schablonenhaft geführt wurde. Zudem ist auch das Schachwissen umfangreicher gewoden, so dass den Bemühungen kleine positionelle Vorteile anzuhäufen Grenzen gesetzt sind. Immer stärker setzte sich eine neuartige dynamische Stellungbehandlungmit komplizierten Stellungenund kreativem Spiel durch gepaart mit Logik, Phantasie und Technik . Neue Generationen von Großmeistern erschienen, zunächst Aljechin, Reti, Nimzowitsch und später die Besten der sowjetische Schachshule, an der Spitze der mehrfache Weltmeister Mihail Botvinnik. Die wichtigste Elemente des dynamische Schaches sind Entwicklung, Initiative, verschiedene Bauernangriffe und Durchbrüche sowie sogar Köningszüge zu Angriffszwecken.
Die führende Schachspieler haben erkannt, dass in offenen Stellungen die dynamischen Vorteile durch aktive Figuren leichter zu verwerten sind. Durch die Bauerndynamik wird die Energie, die in den verschiedenen Bauernstrukturen gespeichert ist, explosionsartig freigesetzt. Wenn wir z. B. Einen Entwicklungsvorsprung oder Stellungsvorteile haben, die in geschlossenen Strukturen schwer zu sehen sind, können durch dynamische Bauernzüge unvermittelt zuvor inaktive Figuren zur Wirkung kommen. Diesen Prozess kann man dann gut erkennen, wenn nach jedem dynamischen Zug eine Stellungsbeurteilung durchgeführt wird, und so werden wir die Änderung der wirklichen Wertes einzelner Figuren gut sichtbar werden. Die Erfahrung zeigt, dass Opfer und dynamische Züge, auch wenn sie nicht ganz korrrekt seinein sollten, den Gegner aus seiner logischen, ruhigen Bahn herauswerfen, und öfter findet er dann nicht die beste Verteidigung, worauf schon Siegbert Tarrasch hinwies.
Der in Wien lebender GM Valeri Beim hat die Wesenzüge der modernen, dynamische Spielweise folgendermaßen beschrieben:
„In vielen komplizierten Positionen kann von dauerhaften Merkmalen abgesehen werden, und tiefere und rasch veränderliche Umstände spielen eine wichtigere Rolle. z.B. Schwächen sind nur diejenigen, die ausnutzbar sind. Das Wesen des dynamischen Herangehens besteht darin, dass es erlaubt, die tiefe Dialektik der Schachkunst, die Elemente der Logik und Phantasie untrennbar vereinigt, aufzudecken. Das Spiel hat nach einen langen historischen Entwicklungsprozess das Beste aus der romantischen und der positionellen Schule übernommen, Strategie und Taktik sind gleichgestellt geworden.”
Yaroslav Strokowski (Strukturiertes Schachtraining, 2013) meint, dass in offenen Stellungen einer der häufigsten und wichtigsten Vorteile der Zeitvorsprung ist, und wenn diese Partei auch die Initiative besitzt, dann kann ein statischer zu einem bedeutenderem Vorteil transformiert werden.
Die wichtigste Erscheinungformen dynamischer Bauernzügen möchte ich vorstellen:
Angriffsmarke
Richard Reti (Die neuen Ideen im Schachspiel 1922) bezeichnete das Feld d5 im Damengambit und später Siegbert Tarrasch (Das Schachspiel 1931) die „h3- und h6-Eselsohren-Bauern” als Angriffsmarken.
Nach Tarrasch damaliger Meinung, sollte Weiss mit dem Zug h3 vorsichtig sein, solang Schwarz noch keine (kurze) Rochade gemacht hat, weil er einen starker Angriff erlauben könnte.
Der schottischer GM Jacob Aagaard greift dieses Thema in seinem Buch Exelling at Technical Chess (2004) als moderne Waffe gegen Felder- und Bauernschwächen wieder auf, was eng mit Initiative, Durchbruch und mit der Dynamik allgemein verbunden ist.
Der Hebel
Der Hebel bedeutet ständige Spannung in der Stellung, es gibt Kreuz- und Treppenhebel. Es gehört zur dynamischen Spielweise, dass man die Voraussetzungen dafür schaffen sollte, falls diese Möglichkeit nicht vorhanden ist.
Über die einfachste Form findet man im Buch von Hans Kmoch (Die Kunst der Bauernführung, 1956) ein gute Beschreibung, wobei die e4/d5-Bauern vor dem gegenseitigen Schlagen stehen. Vom berühmten russischen Trainer Mark Dvoretski möchte ein wichtige Definition zitieren:
„Der Hebelangriff auf die gegnerische Bauernkette mit einem eingenem Bauern –zur rechten Zeit- erlaubt uns, Linien für die Figuren zu öffnen sowie starke gegnerische Bauern zu schwächen oder sie ganz zu beseitigen.”
Der Durchbruch
Der Durchbruch ist eng mit dem Hebel verwandt, einer der wichtigsten Waffen des dynamischen Schachspiels. Er ist mit der Initiative , oft mit einem Opfer oder einer Kombination verbunden, und kann mit Bauern oder Figuren die gegnerische Bauernstruktur durchbrechen.
Dadurch werden Linien zu Angriffzwecken geöffnet, gefährliche Freibauern gebildet oder andere Vorteile erreicht. Das muss gründlich vorbereitet werden, alle Figuren sollten zuvor auf ihre effektivsten Plätze gebracht werden.
Wasserfall, oder Potenzielle Energie
Dies ist ein spezielle Durchbuchsform, wenn die Bauern auf der 6. oder 7. Reihe stehen und vielfach durch Figurenopfer zu gefährlichen Freibauern werden können. Wenn sie gut verteidigt sind, haben solche Bauern ihren tatsächlichen Werte wesentlich erhöht. Sie können sie eine große potentielle Umwandlungsenergie haben,, die auf den Schachbrett wie ein Hochwasser oder ein Wasserfall wirkt, . Je näher ein Bauer dem Umwandlungsfeld ist, desto gefährlicher wird er. Erfahrungsgemäß haben verbundene Freibauern öfter den Wert von Leichtfiguren.
Durchbruch im Zentrum, am Königsflügel - Bauernwalze
Bei der Bauerwalze gewinnt man für die eigenen Figuren Raum und engt die gegnerischen Kräfte ein. Um die Bauernwalze effektiv werden zu lassen, sollt sie von den eigenen Figuren gut unterstützt werden. Für einen aussichtsreichen Köningsangriff sollte man die Verteidigungsfiguren vertreiben und dann die Bauernstruktur zerstören, also die gegnerische Königstellung schwächen. Es darf nie vergessen werden, dass bei erfolgsreichem Flügelangriff die Sicherheit des Zentrums sehr wichtig ist, es sollte geschlossen bleiben, und das beste Mittel gegen eine Flügeloffensive ist der Gegenschlag im Zentrum!
Durchbruch in Endspiel- Freibauer gewinnt
Die Figuren haben materialmäßig zwei Werte, einer ist in der Ausgangsposition der theoretische und der andere während des Partieablaufs der tatsächtliche Wert. Der letztere ändert sich ständig, er hängt sich von vielen Faktoren ab. Diesbezüglich ist es sehr wichtig, wo sich die Figuren auf dem Brett befinden, wie viele Felder sie kontrollieren und wie groß ihre Bewegungfreiheit ist. Der Wert der Bauern kann ebenfalls unterschiedlich sein, am Partieanfang sind die Mittelbauern wertvoller, im Endspiel sind weniger Figuren vorhanden und die Mattgefähr ist geringer, deshalb steigen die Werte der Bauern und die Kmapfkraft des Königs.
In unserem Buch behandeln wir ein Teilgebiet des dynamischen Schachspiels, nämlich die aktiven, angreifenden Bauernzüge, die Durchbrüche, die „Torpedos”, den „Wasserfall”, dann den Angriff gegen den König, die Freibauernbildung, das Bauernopfer und die Zwischenzüge. Zusammengefasst nennen wir das die Bauerndynamik.
Wir haben die Ziele der Züge, deren Motive und die Techniken analysiert. Dafür wurden etwa 1200 Diagramme, überwiegend aus Wettkampfpartien, ausgewertet.
Alle Stellungen haben wir in 32 Kapitel nach dominanten Motiven eingeteilt.
Sie sind im des weiteren nach Spielstärke in drei Stufen und bis hin zum Meisterniveau geordnet. Einige Beispiele lassen sich mehreren Gruppen zuordnen.
Zu betonen ist, dass wir nicht nur die Bauernzüge prüfen müssen. Oft stehen Figurenzüge am Anfang und Figurenopfer sind regelmäßig Grundlage für den Erfolg einer Kombination.
Liebe Leser und Leserinnen! Beinahe jeder interessierte Schachspieler, Trainer oder Schachliebhaber dürfte in diesem Buch die seiner Spielstärke entschprechenden Übungen finden. Durch die vorgestellten Lösungen lassen sich die kleinste Einheit, der Bauer, und die ihm eigenen Geheimnisse näher kennelernen. Sie bekommen die Möglichkeit, diese moderne Spielweise zu verstehen, sie in die Ihre Spielbehandlung einzubauen und Ihre eigenen rechnerischen und kombinatorischen Fähigkeiten zu verbessern, um schließlich dann selbst mit einer gewissen Kunstfertigkeit kreativ seien zu können. Dabei wünsche ich Ihnen viel Spaß und Erfolg!